Eine Annäherung an den aktuellen Entwicklungsstand der Distribution.
Am 12. Oktober 2023 ist die beliebte GNU/Linux-Distribution Ubuntu in der aktuellen Version 23.10 veröffentlicht worden. Diese Freigabe ging natürlich durch die Medien. Anstelle der eigentlichen Änderungen an Ubuntu und seinen Schwesterdistributionen mit anderen grafischen Oberflächen, dürfte das wohl eher an dem Bekanntheitsgrad des Betriebssystems gelegen haben. Und nebenbei auch an einer anstößigen Übersetzung im offiziellen neuen Installationsprogramm. Schlagzeilen wegen technischer Innovationen gab es bei dieser Freigabe eher nicht.
Ubuntu folgt bekanntlich einem sehr eindeutigen Veröffentlichungsmodell: Zwei Freigaben im Jahr sind bei den Entwicklern der Firma Canonical gesetzt - eine kommt im Frühjahr heraus, die andere erscheint im Herbst. Auch die Supportzeiträume dieser Versionen sind für viele wohl schon bekannt: Die meisten Veröffentlichungen genießen je neun Monate Support, die alle zwei Jahre erscheinenden LTS-Versionen dagegen mehrere Jahre Langzeitpflege. Neu ist daran nichts - und bei der Veröffentlichung 23.10 suchte man insbesondere bei den Flavours mit anderen Desktops als Gnome gefühlt vergeblich nach berichtenswerten Neuerungen. Diese Feststellung machte auch der Distro-Tester Jesse Smith, der für das englischsprachige Portal Distrowatch.com schreibt.
In einer Review zu Ubuntu Cinnamon 23.10 und der ebenfalls neuen Version 6 der Linux Mint Debian Edition meint er etwa, dass der Ubuntu-Entwicklergemeinschaft scheinbar früherer Enthusiasmus verloren gegangen sei. Vor weniger als zehn Jahren wäre die Community um die Distribution vor neuen Entwicklungen, Editionen und Ideen nur so übergekocht. Heute, so Smith, kümmere sich die Ubuntu-Firma Canonical scheinbar weniger um den Desktop. Als Indizien führt der Rezensent etwa die Abkehr Ubuntus vom selbst-entwickelten Unity-Desktop und die Rückkehr zu Gnome auf. Oder auch das gehörig eingedampfte Ubuntu One, ebenso wie Ubuntu Touch, welches mittlerweile von einer eigenständigen Community fortgeführt wird.
Smiths Einschätzung zum aktuellen Stand der Distribution gipfelt dann in einer steilen These: “In short, the Ubuntu developer community seems to be entirely uninterested in developing or talking about version 23.10 […].” Zu deutsch lässt sich das mit dem Gefühl übersetzen, dass die Entwicklergemeinschaft um Ubuntu vollkommen desinteressiert daran sei, die Version 23.10 zu entwickeln oder auch nur darüber zu reden. Das mache es auch schwierig, über die Veröffentlichung zu schreiben, bilanziert Smith. Aber ist an dieser These etwas dran? Grundsätzlich stellt sich hier eine Frage: Ist Ubuntu zu Ende entwickelt worden?
Wo steht Ubuntu heute?
Klar, Veröffentlichungshinweise gibt es sicherlich für jede Ubuntu-Version. Aber wenn diese nur aus einer Auflistung neuer Paketstände bestehen oder den kleinsten behobenen Fehler zu einer Neuerung stilisieren, kann man die oben aufgestellten Thesen durchaus nachvollziehen. Mit Blick auf die Vergangenheit der Distribution, des Projekts Ubuntu stelle ich auch selbst fest: Der Hype, den das Betriebssystem früher einmal gehabt haben muss, gibt es in dieser Form wohl nicht mehr. Ubuntu ist nicht mehr das Vorzeige-Linux - selbst wenn es noch große Marktanteile kontrolliert. Denn wer die Community immer wieder gegen sich aufbringt - selbst aus guten Intentionen heraus - kann sich nicht als deren Speerspitze verstehen.
Wo steht Ubuntu heute eigentlich? Die Distribution, die sie einmal war, ist sie vermutlich nicht mehr. Hin und wieder kommen mir die Berichte und Diskussionen zu Ubuntu so vor, als hätten die Entwickler mit Projekten wie dem Snap-Paketformat einige Nutzer praktisch desillusioniert. Förmlich vom Glauben abfallen lassen von einer Distribution, die einst als Hoffnungsträger, als das “Linux für die Massen” galt.
Ubuntu gibt es aber immer noch, mit dem Gnome-Desktop liefert man sogar die am meisten verwendete grafische Oberfläche unter GNU/Linux-Systemen aus. Und auch die Flavours bleiben relevant, entwickeln sich mehr oder minder in eine eigene Richtung oder bleiben klar als Mitglied der Ubuntu-Familie zu erkennen, wobei die Mutterdistribution eine Vorbildfunktion einnimmt. Zwar steht Ubuntu heute wohl nicht mehr dort, wo es vor einigen Jahren stand - die Zeit bleibt nicht stehen, und mit dieser GNU/Linux-Distribution macht sie keine Ausnahme. Aber eindeutig festzustellen, welche Stellung Ubuntu in der heutigen FOSS-Community zukommt - das bleibt schwierig.
Ubuntu: Licht und Schatten
Im Grunde wirft Smith Ubuntu in seiner Rezension nichts weniger als Langeweile vor. Zu wenig Innovation, zu wenig Wagnis, zu wenig von dem, was Ubuntu einst zu Ubuntu gemacht hat - so klingt für mich der Tenor, den der Autor in seinem Text anspricht. Aber muss hier nicht auch der besondere Betrachtungswinkel mit einbezogen werden, den Smith als Mitarbeiter von Distrowatch.com auf die FOSS-Szene haben könnte? Ist nicht eigentlich davon auszugehen, dass Smith schon so einiges aus der GNU/Linux-Welt gesehen hat - und heute deswegen nicht mehr so einfach zu begeistern ist?
Gut, vor ein paar Jahren habe das ja anscheinend noch anders ausgesehen. Aber trotzdem bleibt der fragliche Sachverhalt der gleiche: Ist Ubuntu wirklich so unspannend, wie es im referenzierten Text dargestellt wird? War es früher wirklich mutiger und experimentierfreudiger - kurz: Eine interessantere Distribution? Anders gefragt: Ist Ubuntu wirklich weniger spannend geworden - oder sind wir als Nutzerinnen und Nutzer heute einfach weniger leicht zu begeistern?
Ubuntu hatte vor einigen Jahren einen riesigen Hype: Mit Gnome in Hauptversion 2, einer starken Community und dem latenten, freundlichen Motto der Menschlichkeit konnte man sich zu einer festen Größe in der Szene etablieren. Über die Jahre wurde dieser Erfolg immer weiter ausgebaut - und durch ein paar Kontroversen vielleicht auch wieder gebremst. Amazon, Telemetrie und Snap - vermutlich reichen diese Stichworte schon, um die meisten an die Geschichte der Distribution zu erinnern. An den Teil nämlich, der eher als der der negativen Entwicklungen gilt.
Als Ubuntu seinen großen Hype hatte, habe ich GNU/Linux noch nicht verwendet. Ich kann mir aber vorstellen, wie dieses Gefühl gewesen sein muss. Denn als ich dann irgendwann einmal angefangen habe, das freie Betriebssystem GNU/Linux einzusetzen, war ich ebenfalls sehr enthusiastisch. Aus heutiger Perspektive ist aber auch ein etwas objektiverer Blick auf die Geschichte der Distro möglich und zeigt: Ubuntu hatte in der Vergangenheit sowohl viel Glanzvolles, als auch so manche Schattenseiten.
Eine verklärte Vergangenheit
Ubuntu ist nicht mehr das, was es einmal war. Neben harten, technischen Fakten beruht diese Aussage meiner Ansicht nach insbesondere auf einem ganz bestimmten Gefühl: Dem der schon angesprochenen enttäuschten Hoffnung. Freie Software kann für manche zu einem sehr emotionalen Thema werden - immerhin geht es hier ja um nicht weniger als die Rechte von Computernutzern. Idealisten auf der einen, technische Pragmatiker auf der anderen Seite: Das kann eigentlich nur zu hitzigen Diskussionen führen.
Ich habe allerdings den Eindruck, dass Ubuntu es zu seinen Hochzeiten geschafft hat, beide Gruppen anzusprechen - und auch das ist beachtlich. Funktional war und ist Ubuntu qualitativ hochwertig, lieferte von Anfang an eine durchaus solide Distribution, die sich über die Zeit verbessert hat. Und ethisch gesehen, ergab sich mit Ubuntu die Chance, freie Software zu den Vielen zu bringen - zu Menschen, die sonst nie etwas davon gehört hätten. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich große Teile der FOSS-Community zu dieser Zeit tatsächlich wie der Circle of Friends gefühlt haben, den man von Ubuntu her kennt.
Aber ist da eigentlich auch mehr als dieses Gefühl? In den Anfangstagen war Ubuntu im Grunde ein Debian-Installer mit einer voreingestellten Paketauswahl - und natürlich großen Ambitionen. Diese Ziele hat man später vielleicht auch erreicht, viel mehr noch hat man sich aber einen Namen gemacht. Einen Namen als die Distribution für alle, für Einsteiger wie Erfahrene - für die Community eben, aus der Ubuntu auch entstammen sollte.
Hätten die ersten Ubuntu-Entwickler auch weiterhin primär an Debian mitarbeiten können? Ja. Hätte man innerhalb Debians ein ähnliches Produkt erzeugen können, wie Ubuntu es zu dieser Zeit war? Vielleicht. Wäre daraus ein ebenso großes und bedeutendes, neues Projekt entstanden? Vermutlich eher nicht, denn Debian war ja schon etabliert. Ubuntu ist durchaus einzigartig, war das aber nicht von Beginn an, sondern vielmehr erst über die Zeit hinweg. Ubuntu ist zu einem Teil der Community geworden. Aber zeigt sich an dieser Geschichte nicht eigentlich auch, dass die Anfänge von Ubuntu ein wenig verklärt werden?
Ubuntu ist nicht die einzige anfängerfreundliche Distribution - heute erst recht nicht, aber auch damals nicht unbedingt. RedHat Linux, später Fedora, und openSUSE konnte man schon früher installieren, auch gab es Einstiegsdistributionen wie Kanotix oder Mepis bereits vor Ubuntu. Letztere Distribution hatten meiner Einschätzung nach allerdings das wohl bedeutendste Momentum - das auch am besten ausgenutzt wurde. Menschlichkeit, Gemeinschaft und eine gewisse Offenheit versprüht Ubuntu ja bis heute. Und damals konnte man mit solchen Grundsätzen wohl auch gut auf sich aufmerksam machen.
Einmal als wichtiger Bestandteil der GNU/Linux-Welt etabliert, prägte Ubuntu diese stark. Das möchte ich dem Projekt wirklich nicht absprechen. Natürlich ist der Erfolg nicht vom Himmel gefallen. Was das Marketing angeht, waren Aktionen wie der kostenlose Versand von Installations-CDs natürlich Gold wert - aber bessere Software lagerte deswegen trotzdem nicht auf diesen Datenträgern. So unterschiedlich und facettenreich wie sie ist, sollte die Geschichte von Ubuntu auch vielschichtig betrachtet werden. Das ist nicht einfach, wenn ein Projekt so sehr für bestimmte Hoffnungen steht, für einige sicherlich auch der Einstieg in die liebgewonnene FOSS-Community war. Aus heutiger Perspektive ist das nicht unbedingt leichter - aber vielleicht doch möglich.
Der Traum ist aus
Hätten diejenigen, die Ubuntu heute als langweilig verkennen, auch so darüber geurteilt, wenn die Version 23.10 die erste der Distribution gewesen wäre? Hat man die frühen Freigaben von Ubuntu mit dem selben Maß gemessen, wie wir es heute an die aktuellen Versionen anlegen? Hätten wir Ubuntu 23.10 und seine Flavours zu den Hochzeiten der Distro ebenfalls als uninteressant wahrgenommen? Lebt der Eindruck, dass die Ubuntu-Gemeinschaft vor ein paar Jahren nur so vor Ideen übergekocht ist, vielleicht doch nur in unseren Köpfen?
Ja, ich habe auch manchmal das Gefühl, dass einige Distributoren nur ein Debian ausliefern und das Hintergrundbild und die Paketauswahl anpassen. Solche “Wallpaper-Distributionen” nehme ich dann auch negativ wahr - aber hätte ich Ubuntu in seinen frühen Tagen nicht vielleicht doch anders gesehen, wenn es, als es genau das getan hat? Wie gesagt: Ich möchte Ubuntu hier nichts absprechen. Nicht seinen Erfolg, nicht seine Beachtung, nicht die Hoffnungen, die es bei manchen geweckt hat. Mir geht es vielmehr um den Hype als Prinzip.
Wenn eine Distribution im öffentlichen Interesse steht und positiv aufgenommen wird, kann ihr das gehörig Auftrieb verleihen. Und wenn sich ein Distributor einen solchen Ruf einmal erarbeitet hat, dann kann er sich wohl auch der allgemeinen Beachtung sicher sein. Ubuntu hat zu Hochzeiten genau das geschafft: Der Hype um das Betriebssystem war da. Über die Zeit aber scheinen von diesem immer wieder kleine Stücke abgebröckelt zu sein.
Snap, Amazon und Telemetrie haben Ubuntu geschadet, denn mit derartigen Entwicklungen hat man sich schlicht Vertrauen verspielt. Und genau dieses fehlende Vertrauen könnte auch dazu geführt haben, dass der Hype um Ubuntu mittlerweile verschwunden ist. Positiv formuliert: Die von vielen so negativ wahrgenommenen Entwicklungen haben manch anderen die Augen geöffnet. Zumindest scheint es so. Und seitdem das der Fall ist, fällt auch auf, dass nicht jeder Ubuntu-Release extrem spannend ist. Oder sein muss?
Zwischen Kritik und Nörgelei
Ein so negativer Blick auf Ubuntu macht Spaß, und er deprimiert gleichzeitig. Spaß macht er, weil man dann schnell fertig ist mit dem eigenen Urteil. Es ist so einfach, Negatives aufzuschreiben, ohne sich in eine andere Position zu versetzen. Es ist leicht zu meckern - aber schwer zu kritisieren. Denn um Kritik sinnvoll zu formulieren, braucht sie manchmal auch ein bestimmtes Fundament. Im Fall Ubuntu lässt sich dieses wohl nur mit einer vielseitigeren Betrachtung erreichen.
Wirkt es nicht ein bisschen unrealistisch, dass die gesamte Ubuntu-Entwicklerschaft scheinbar das Interesse an ihrer Distribution verloren haben soll? So vollkommen, im Kollektiv? Das passt doch nicht mit einer engagierten Gemeinschaft aus Freiwilligen zusammen, die im Zweifel ihre eigene Freizeit für ein Projekt aufwenden. Oder mit Entwicklern, die in anderen Firmen vielleicht viel besser verdienen könnten - aber womöglich Hoffnungen gegenüber Canonical oder Ubuntu hegen und daher an diesem Projekt mitarbeiten.
Na klar, ich kann mich hier mit hunderten Worten über Ubuntu auslassen. Aber muss ich das wirklich? Sollte ich das wirklich? Das wirkt verkürzt und ist mir auch ein bisschen unangenehm. So schnell herabzuwürdigen, woran andere gar Jahre lang gearbeitet haben, fühlt sich nicht gut an. Es hat auch wenig Gehalt, hier ellenlang darüber zu schreiben, wie eine Frage von einer Seite beleuchtet werden kann und die andere indes auszublenden: Das ist ja immer noch ein Essay. Ich muss mich hier sozusagen zwingen, meine Frage auch mal gegensätzlich zu beantworten: Nein, Ubuntu ist nicht ausentwickelt worden!
Eine Distribution ist nicht auf einmal fertig - an Debian, openSUSE, Fedora, Arch und Konsorten verändert sich ständig etwas. Ubuntu macht hier keine Ausnahme - denn auch die eigenen Anwender erwarten aktuelle Pakete und Sicherheitspatches. Das ist doch logisch. In diesem Sinne stellt sich die Frage nach einer Ausentwicklung also gar nicht. So lange eine Distribution nicht eingestellt wird, kann sie nicht beendet werden - das wäre ein Widerspruch in sich. Eine Distribution ist mehr als nur ein einmalig herausgegebenes Bündel Software; sie muss gepflegt werden. Und auch wenn es langweilig scheint: Genau das machen die Ubuntu-Entwickler seit Jahrzehnten.
Um eine gute Distribution zu entwickeln, braucht es nicht immer viele neue Funktionen. Neues, Schönes, Modernes: Natürlich hat das seinen Reiz. Aber eben auch nicht immer. Manchmal braucht es auch eine gewisse Beständigkeit, ohne stehen zu bleiben und ohne die Vergangenheit zu verklären. Debian ist eine stabile Basis; in der öffentlichen Wahrnehmung wird das Projekt auch als solche gesehen und geschätzt. Bei Ubuntu kann man in dieser Hinsicht ähnlich argumentieren. Mehr noch ist Ubuntu mit seinem regelmäßigen Veröffentlichungs-Rhythmus förmlich darauf angelegt, eine gewisse strukturelle Sicherheit zu gewährleisten.
Vielleicht zeigen sich hier auch wieder Differenzen zwischen den Interessen der kommerziellen Canonical-Kunden und den Community-Anwendern des Ubuntu-Desktops. Die Industrie setzt bei ihrer Infrastruktur anscheinend stets auf Langfristigkeit. Verständlich, irgendwie. Software mit Jahren über Jahren garantierter Unterstützung funktioniert natürlich auch auf dem heimischen Rechner - Debian steht bei mir etwa bestes Beispiel, ich sehe diese Distro übrigens auch nicht als ein Produkt primär für die Industrie. Aber manche Anwender wollen einfach immer das Neueste und Beste auf dem Rechner. Deswegen sind rollende Distributionen wie Arch Linux auch so beliebt. Und dann ist da natürlich auch diese gewisse Abenteuerlust: Wenn freie Software zum Hobby wird, verspricht ein Ubuntu-Release natürlich auch Interessantes und Sehenswertes.
Put the fun back into computing
Dieses Essay ist vielen womöglich schon zu lang. Analysen im Journalismus haben meines Wissens nach gezeigt, wie wenig Leser wirklich von einem Text lesen - mit tausenden Wörtern habe ich bestimmt keine sonderlich große Chance, alle meine Überlegungen allen zu vermitteln. Aber das muss ich ja auch nicht. Das Thema dieses Beitrags ist zu komplex, als dass ich es in wenigen Absätzen abhandeln und beiseite schieben könnte.
Ursprünglich habe ich meine Anregung für diesen Text der Seite Distrowatch.com entlehnt. Deren Slogan lautet: “Put the fun back into computing” - der Spaß soll in den Computer-Alltag zurückkehren. Ist damit nicht eigentlich schon so vieles gesagt? Mit Blick auf die unterschiedlichen Ansprüche an Ubuntu ergibt sich hier auch ganz deutlich: Die Position, die Jesse Smith in seiner Review vertritt, ist am Ende des Tages auch “nur” eine Einzelmeinung. Sie ist Aufsehen erregend, streitbar, zu diskutieren - aber schlussendlich seine ganz persönliche, eigene Sichtweise.
Ich wiederum sehe Distrowatch als eine Domäne der Nerds. So aktuell wie die Seite ist, so wenig, wie sie sich sonstigen Trends im Webdesign hingibt: Das Portal ist schon eigen und wird von unterschiedlichen Autoren unterschiedlich beurteilt. Mal als eine gute Informationsquelle, mal als die Anlaufstelle schlechthin für alles im FOSS-Zusammenhang - und in gewissen Fällen als ein wenig unseriös. Doch man muss der Seite und ihrem Slogan lassen: Eine gewisse Aussagekraft ist schon dahinter, man ist in der Szene bekannt und beachtet, egal wofür.
Jesse Smith beurteilt die GNU/Linux-Welt vermutlich anders als seine Leserschaft, anders als du vor dem Monitor oder auch als ich hier an der Tastatur. Jesse Smith hegt andere Erwartungen an Ubuntu und stellt sich von der Distribution vielleicht etwas anderes vor als das, was diese tatsächlich liefert. Oder liefern muss? Andererseits gibt es nämlich Menschen, die mit dem aktuellen Angebot von Ubuntu-Distributionen wohl durchaus zufrieden sind, vermute ich zumindest mal. Jesse Smith gestaltet seinen Desktop wahrscheinlich anders als du, ich, wir. Und das ist nicht schlimm, nicht entscheidend, gar nicht der Punkt. “Jesse Smith” lässt sich hier nämlich beliebig durch andere FOSS-Anwender ersetzen.
Eine einheitliche Vorstellung, wie freie Software, GNU/Linux-Distributionen eingeschlossen, genutzt werden sollen, die gibt es eben nicht. Warum sollte es die auch geben? Sie wird nicht gebraucht, erst recht nicht, wenn das Angebot der verfügbaren Distributionen so reichhaltig wie im Moment ist. Wohin sich Ubuntu entwickeln sollte oder auch nicht, das ist genau so wenig in Stein gemeißelt. Außerdem ist die Meinung, auf die ich hier ausführlich eingehe, nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird die nächste Ubuntu-Version wieder interessanter - vielleicht war 23.10 nur die Ruhe vor dem Sturm? Vielleicht haben die Ubuntu-Entwickler nicht das Interesse verloren, sondern nur ihren Fokus bei der Entwicklung verlagert?
Ubuntu 23.10 mag nicht die spannendste Freigabe dieser Distribution in ihrer Geschichte sein. Aber schlecht, langweilig, uninteressant macht sie das noch nicht automatisch. Eine solide Distro für das wertzuschätzen, was sie ist, will anscheinend auch gelernt - oder überdacht sein. Wohin sich Ubuntu entwickeln wird, lässt sich schwer einschätzen, für mich zumindest. Wie Ubuntu ist, darüber können wir uns streiten. Ob wir derartige Debatten allerdings brauchen oder nicht, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Ubuntu ist in der Vergangenheit nicht stehen geblieben, bleibt mit der aktuellen Interimsversion nicht stehen und macht das wohl auch in Zukunft nicht. Zumindest hoffe ich das.
Bildnachweis: Beitragsbild basierend auf dem Ubuntu-Logo: Canonical Ltd., GPLv3, via Wikimedia Commons
Quelle: https://distrowatch.com/weekly.php?issue=20231023#ubuntucinnamon
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