Der Dunning-Kruger-Effekt als mögliche Erklärung.
Hinweis: das ist ein Meinungsartikel.
Obwohl ich keine Statistiken oder belastbare Daten habe, behaupte ich, dass eine Anzahl von Linux-Einsteiger:innen nach einer gewissen Zeit zu ihrem vorherigen Betriebssystem (MS Windows, MacOS) zurückkehren. Welche Gründe stecken hinter dieser Abkehr, bzw. Rückkehr?
Ugly Sweater im Microsoft-Look von Windows XP
Bevor ich etwas über die Gründe zur Rückkehr schreibe, möchte ich die möglichen Gründe für die Abkehr vom bisherigen Betriebssystem aufzählen. Manche haben von der Alternative GNU/Linux als Betriebssystem gehört und sind neugierig, dieses zu entdecken. Andere suchen einen Fluchtweg, weil sie dem goldenen Garten mit seinen Zwängen entkommen wollen. Wieder andere wurden von Freunden oder der Familie dazu gedrängt, damit ebendiese ihre Weihnachtsferien nicht mehr mit Windows-Support verbringen müssen. Und dann gibt es noch die Wenigen, denen Freiheit und Selbstbestimmung ein grundsätzliches Anliegen ist.
Erklärungen für die Rückkehr zu Microsoft oder Apple gibt es viele. Besonders interessant erscheint mir jedoch der Dunning-Kruger-Effekt. Angeregt wurde ich durch Fabians Zum-Wochenende-Artikel vom letzten Freitag und einem Video von DT. Fabian fragt, ob sich der Wille zur Entdeckung mit der Zeit abnutzt und DT führt den Dunning-Kruger-Effekt als Grund für das nachlassende Interesse, bzw. die frühzeitige Resignation an. Zugegeben, hier reden wir von zwei unterschiedlichen Zeitskalen. Bei Fabian wird der Willen, neues zu entdecken langweilig, nachdem man die Gipfel erklommen hat; bei DT läuft man schon viel früher weg.
Doch nun zum Dunning-Kruger-Effekt. Einfach gesagt, beschreibt dieser Effekt die kognitive Verzerrung von Menschen, das eigene Wissen und Können zu überschätzen. Das geht so: Du bist ob einer Neuentdeckung euphorisch und stürzt dich ins Abenteuer. Am Anfang bist du der Meinung, dass es doch nicht so schwer sein kann. Dein Wissen ist gering, aber deine Zuversicht ist gross.
Nachdem du dich eine Zeit lang mit der neuen Sache beschäftigt hast, siehst du ein, dass es doch nicht so einfach ist. Dein Selbstvertrauen sinkt hinab in das Tal der Verzweiflung. Und das ist der Ausstiegspunkt für manche GNU/Linux-Einsteiger:innen. Sie verlassen das Tal der Tränen und kehren freiwillig in ihr Gefängnis zurück, sei es Microsoft Windows oder Apple MacOS. Sie konnten die Last der Freiheit nicht ertragen. Der freie Wind hat sie von den Füssen geblasen. Lieber umsorgt und bevormundet als frei zu sein. Den beiden letzten Sätze gebührt ein kleiner Exkurs:
In einigen Artikeln habe ich über Freiheit versus Sicherheit geschrieben. Darin habe ich mich auf das Zitat von Benjamin Franklin bezogen: "Those who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither Liberty nor Safety." Übersetzt: "Diejenigen, die ihre grundlegende Freiheit aufgeben, um ein wenig vorübergehende Sicherheit zu erkaufen, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit." Sicherheit und Freiheit schliessen sich auf einer gesellschaftlichen und politischen Ebene gegenseitig aus. Ein Mehr an Sicherheit geht zu Lasten deiner Freiheit. In demokratischen Organisationen besteht ein Kompromiss zwischen Sicherheit und Freiheit. Bei technischen Systemen, sieht das anders aus. Dort ist das Nebeneinander von Sicherheit und Freiheit möglich. Und das ist der Kerngedanke von Freier Software.
Anstatt im Tal der Verzweiflung die Fronten zu wechseln, ist Durchhaltewillen gefordert. Wenn du nicht bekommen hast, was du erwartet hast, kommt die Zeit, sich an neue Paradigmen, Workflows, Desktops, Methoden, Lizenzen und Hilfeleistungen zu gewöhnen. Die GNU/Linux-Welt ist eine völlig andere, als die Windows- und MacOS-Welt. Hier ist eine Einstellung gefragt, die sich offen für Neues zeigt. Wer die Flinte zu früh ins Korn wirft, verpasst den Aha-Effekt, verpasst den "Weg zur Erleuchtung", um die Worte des Diagramms zu verwenden.
Das gilt nicht nur für technische Systeme, sondern für fast alle neuen Gebiete, denen ihr euch zuwendet. Wer ein Pferd reiten möchte, darf nicht nach den ersten Abwürfen aufhören. Wer einen Partner für sich gewinnen will, darf nicht nach dem ersten Korb aufhören. Andererseits solltet ihr aufhören, wenn ihr das Tal der Tränen nicht mehr verlassen könnt. Hier spielt die Zeit eine Rolle. Man kann nicht ewig auf die Erleuchtung warten; ein Jahr könnt ihr dem Schicksal dennoch einräumen, um das Plateau der Nachhaltigkeit zu erreichen.
Jetzt schütte ich den Eiskübel über euer Haupt. Alles, was ich bisher zum Dunning-Kruger-Effekt geschrieben habe, ist falsch. Was ich beschrieben habe, nennt sich "Mount Stupid". Diesen Berg der Dummheit seht ihr im linken Teil der oben gezeigten Grafik, die auch "unechter Dunning-Kruger-Effekt" (DKE) genannt wird. Der unechte DKE wird oft in den Medien verwendet, so auch im Video von DT.
Der eigentliche DKE sieht ganz anders aus. Im Gegensatz zum "Mount Stupid" gibt es hier kein Tal der Tränen und keinen anschliessenden Aufschwung. Doch seht selbst:
Beim tatsächlichen DKE sieht man viel weniger als beim unechten DKE. Eine Übereinstimmung gibt es zu Beginn. Dort liegt die eigene Einschätzung des Wissens über dem tatsächlichen Wissen. Ein entscheidender Unterschied ist, dass sich die Erfahrung kontinuierlich erhöht, sowohl in der eigenen Wahrnehmung als auch bei der objektiven Leistung.
Der echte DKE kennt kein Tal der Tränen und daher keinen Rückkehrpunkt von Linux-Einsteiger:innen, die wieder zu Windows oder MacOS gehen. Damit taugt der DKE nicht als Erklärung für Rückkehrer (DT, hold my beer).
So what? Die Titelfrage habe ich nicht beantwortet, aber den Dunning-Kruger-Effekt erklärt und richtiggestellt. Das soll für dieses Wochenende ausreichen.
Bildquelle: Microsoft
Quellen:
https://www.klartext-jura.de/2015/05/18/freiheit-und-sicherheit-was-benjamin-franklin-wirklich-sagte/
https://de.wikipedia.org/wiki/Dunning-Kruger-Effekt
https://piped.video/watch?v=Gt0WBoYAG1s
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